50 Jahre Schutzgemeinschaft: Ein politisches Lehrstück
Festvortrag am 5.12.2017 im Landratsamt Freising
Von Ernest Lang, M.A.

„Nachbar Flughafen”. Das war der Titel einer 1970 von der Flughafengesellschaft herausgegebenen Broschüre. Wie in den Unterlagen zur Standortentscheidung des bayerischen Ministerrats für den Großflughafen München II am 5. August 1969 wurde die Zukunft der Region Erding/Freising in leuchtenden Farben gezeichnet wurde. Ein unbedarfter Leser musste den Eindruck gewinnen, hier würde eine Region, die vom Wirtschaftswunder bisher noch unbeleckt geblieben war, vom künftigen Nachbar Flughafen wach geküsst. Heute, 48 Jahre später, muss ich sagen: Morgens um sechs weckt mich mein Nachbar Flughafen. Nicht mit einem sanften Kuss oder einem fröhlichen Gruß, sondern mit lautem Lärm. Er tut das bei mir in Neufahrn bei Westwind – mich stört es vor allem im Sommer, wenn das Schlafzimmerfenster offen ist. Dann starten die schweren, bis auf den letzten Platz besetzten Urlauber-Maschinen nach Mallorca, Kreta, zu den Kanaren oder nach Ägypten, sie drehen kurz vor Neufahrn nach Süden ab, ihr Lärm weckt mich auf. Auch noch nach 25 Jahren, seitdem ist dieser Nachbar Realität.
Dass die Broschüre über den Nachbar Flughafen aus dem Jahr 1970 in starkem Maß geschönt war, hat sich noch im gleichen Jahr herausgestellt, als im Herbst 1970 die Lärmzonenkarten veröffentlicht wurden. Wie es dazu kam und welche Konsequenzen sich daraus ergaben, möchte ich heute Abend darstellen. Ich greife dabei zurück auf meine nunmehr seit 1969 währende journalistische Beschäftigung mit dem Flughafenprojekt, als ich als junger freier Mitarbeiter des Freisinger Tagblatts zu einer Versammlung der Moosbauern geschickt wurde, die sich in einer Eigentümergemeinschaft zusammengeschlossen hatten. Vor allem aber ist meine Quelle meine 400 Seiten starke Magisterarbeit bei Professor Kurt Sontheimer im Fach Politische Wissenschaft an der Universität München, die im Jahr 1976 entstand und als Fallstudie über das damals neue Phänomen der Bürgerinitiative angelegt war. Uneingeschränkte Akteneinsicht gewährte mir – neben zahlreichen Gemeinden – damals auch die Schutzgemeinschaft, ebenso erhielt ich von zahlreichen Protagonisten der damaligen Zeit umfassend Auskunft. Hier möchte ich namentlich vor allem Manfred Steinicke erwähnen, den ersten, ehrenamtlichen Geschäftsführer der Schutzgemeinschaft.
Obwohl Neufahrn vom Spätherbst 1970 bis zur Eröffnung des Flughafens 1992 der Hauptort des Widerstands gegen den Flughafen war und die inzwischen verstorbene Bürgermeisterin Käthe Winkelmann zur Ikone der Flughafengegner wurde, kommt man an der Erkenntnis nicht vorbei, dass der Protest aus Freising, Neufahrn, Eching und aus anderen großen Gemeinden zu spät kam. Als sich in den großen Gemeinden ernsthafter Widerstand formierte, waren die Würfel bereits für den Standort Erdinger Moos als politische, rechtlich unanfechtbare Entscheidung gefallen. Die politische Standortentscheidung wurde dann konsequent und beharrlich von staatlicher Seite verteidigt, ungeachtet der Tatsache, dass sich im Laufe der dann gesetzlichen vorgeschriebenen Verfahren herausstellte, auf welch fragwürdigen und teilweise manipulierten Grundlagen der Ministerratsbeschluss vom 6.8.1969 zu Lasten des Erdinger Mooses zustande gekommen war.
Am 6. Dezember 1967, also fast auf dem Tag genau vor 50 Jahren – hatten sich die Bürgermeister von Oberding, Eitting und den damals noch selbständigen Gemeinden Attaching und Pulling mit dem Erdinger Landrat Simon Weinhuber (Bayernpartei) im Gasthaus Kiefer in Attaching getroffen. Mit dabei in der Runde waren auch noch Senator Xaver Ernstvom Bayerischen Bauernverband, zwei weitere Bauernverbandsvertreter, der in Schwaig ansässige Arzt Dr. Maier, ein Diplom-Landwirt, der Vorsitzende des Wasser- und Bodenverbands Freising sowie Manfred Steinicke und seine Ehefrau, Besitzer einer Kräutertrocknungsanlage bei Schwaig in der Gemeinde Oberding. Dabei wurde eine Interessengemeinschaft gegen den Flughafen gegründet. Initiator war Manfred Steinicke gewesen.
Steinicke war nach der Ausweitung des Raumordnungsverfahrens Hofolding auf den Standort Erding im Spätherbst 1967 nach Hofolding und Aying gefahren, hatte Versammlungen der dortigen Flughafengegner besucht und sich deren Organisation zum Vorbild genommen. Nach dem Muster der Schutzgemeinschaft Hofolding bemühte er sich nun den Widerstand im Erdinger Moos zu organisieren, wobei er sich zunächst an die kleineren Gemeinden in seiner näheren Umgebung wandte. Auf der Versammlung am 6. Dezember 1967 wählten die 13 Gründungsmitglieder den Bürgermeister von Oberding, Franz Schweiger, zum 1. Vorsitzenden der neuen „Schutzgemeinschaft Erdinger Moos und Umgebung”, so damals der offizielle Name. In der Gemeinde Oberding sollte nach den damals bekannten Plänen der größte Teil des Flughafen-Areals liegen. Zum 2. Vorsitzenden wählten die 13 Gründungsmitglieder Bernhard Seewald, den Bürgermeister von Pulling, dessen Gemeinde nach den dürftigen Unterlagen, die den Anwesenden zur Verfügung standen, in der Haupteinflugschneide liegen würde. Zum Geschäftsführer der Schutzgemeinschaft wurde deren Initiator Manfred Steinicke bestimmt.
Als Rechtsform wählten die Gründer die des eingetragenen Vereins, Mitglieder sollten natürliche wie juristische Personen sein, also auch Gemeinden, Vereine und Verbände. Organe des Vereins sollten der Vorstand, die Vorstandschaft, ein 17-köpfiger Beirat aus den Reihen der Mitglieder sowie die Mitgliederversammlung sein. Auf der ersten Mitgliederversammlung am 10. Januar 1968 in Oberding wurde die Vorstandschaft durch Kassier und Beisitzer sowie zwei weitere Landwirte ergänzt. Mit Ausnahme des Bürgermeisters von Pulling wohnten alle Vorstandsmitglieder in einem der Dörfer im Erdinger Moos.
Die Schutzgemeinschaft machte sich als erstes daran, Mitglieder zu werben. Gemeinden sollten 20 Pfennig pro Einwohner bezahlen. Der niedrige Beitrag von drei Mark im Jahr für Privatpersonen erleichterte den Beitritt. Bis zum 30. April 1968 hatte die Schutzgemeinschaft 973 Einzelmitglieder gewonnen. 112 von ihnen kamen aus Pulling, zusammen 184 waren in den beiden kleinen, damals noch selbständigen Gemeinden Massenhausen und Giggenhausen zu Hause, die ebenfalls überflogen werden sollten, 187 Mitglieder waren der Schutzgemeinschaft in der Kreisstadt Freising beigetreten. Die Hälfte der 973 Einzelmitglieder, nämlich 490 wohnten in den kleinen Dörfern im Erdinger Moos. Überhaupt keine Mitglieder hatte die Schutzgemeinschaft zu diesem Zeitpunkt in der Stadt Erding und in den Gemeinden Eching und Neufahrn. Der Widerstand war zu diesem Zeitpunkt also weitgehend auf die Bewohner im Moos beschränkt, was sich auch an den Gründungsmitgliedern und der Vorstandschaft zeigte.
Obwohl zu einer Vorbesprechung zur Gründung der Schutzgemeinschaft im Spätherbst 1967 auch die Bürgermeister von Neufahrn, Günzenhausen, Eching, Hallbergmoos und anderer Gemeinden eingeladen waren und diese auch teilnahmen, konnten sie sich nicht sofort dazu durchringen, gegen die Pläne im Erdinger Moos zu protestieren. Sowohl die Bürgermeisterin von Neufahrn, als auch der Echinger Bürgermeister erklärten, ihnen seien die Hände gebunden, solange sie nur aus der Zeitung informiert seien und noch überhaupt keine Pläne vorliegen würden. Diese unpolitische Haltung nahm auch der neue Freisinger Landrat Ludwig Schrittenloher ein, der auf einer Echinger Bürgerversammlung erklärte, es sei auch noch Zeit zum Protest, wenn konkrete Pläne auf dem Tisch lägen. Man solle erst einmal in Ruhe Vor- und Nachteile abwägen, bevor man sich entscheide.
Noch zurückhaltender zeigte man sich im Freisinger Rathaus. Den ersten Protestversammlungen waren Vertreter der Stadt Freising genauso fern geblieben, wie einem Informationsgespräch mit Vertretern des Wirtschaftsministeriums und der Flughafengesellschaft im März 1968. Obwohl sich der Auf Betreiben des damaligen Fraktionsvorsitzenden im Kreistag, Bürgermeister Hager aus MassenhausenCSU-Kreisverband gegen das Flughafenprojekt im Moos ausgesprochen hatte, und obwohl bei einer Versammlung der Schutzgemeinschaft in Freising bis auf einen einzigen Besucher alle Anwesenden gegen den Flughafen Position bezogen, konnte sich die Stadt nicht zu einem negativen Votum durchringen. Als am 22. März 1968 die Schutzgemeinschaft eine Demonstration auf dem Freisinger Marienplatz organisierte, verfolgte Oberbürgermeister Max Lehner diese Demonstration nur vom Fenster seines Amtszimmers. Er hatte Anfang Februar 1968 gegenüber einem Reporter der Münchner Abendzeitung sogar angedeutet, er könne sich durchaus vorstellen, dass die Stadt sich für den Flughafen aussprechen würde. Genau dies ist dann in der Nachbarstadt Erding passiert, die die Flughafenpläne ausdrücklich begrüßte. Während die Gemeinden Neufahrn und Eching dann nach dem Vorliegen der Projektbeschreibung im Sommer 1968 Mitglieder der Schutzgemeinschaft wurden und Bürgermeisterin Winkelmann bei der Bürgerversammlung im November 1968 ihre Mitbürger leidenschaftlich aufforderte, der Schutzgemeinschaft beizutreten, ließ sich die Stadt Freising bis zum 7. März 1969 dafür Zeit. Damals hatte die Regierung von Oberbayern bereits den Standort Hofolding abgelehnt und den Standort Erdinger Moos für geeignet befunden. Bezeichnend für die damalige Haltung der Stadt Freising ist, dass Manfred Steinicke, Geschäftsführer der Schutzgemeinschaft, am 6. März 1968 von der Stadt Freising eine Verwarnung erhielt, weil im Stadtgebiet Plakate gegen das Flughafenprojekt aufgehängt worden waren.
Wie konnte es zu dieser aus heutiger Sicht unverständlichen Haltung kommen? Als 1967 das Raumordnungsverfahren für den Münchner Großflughafen aufgrund der massiven Proteste aus dem Münchner Süden gegen den geplanten Standort Hofoldinger Forst auf das Erdinger Moos ausgedehnt wurde, glaubte man in den Rathäusern in Freising, Eching und auch in Neufahrn nur zu gerne den Versicherungen der Flughafengesellschaft, der Airport würde nur ein paar kleine Dörfer im Erdinger Moos tangieren. In der Projektbeschreibung der Flughafengesellschaft war nur von einigen Hundert Lärmbetroffenen die Rede, die Stadt Freising und die großen Gemeinden Eching und Allein die Ansiedlung des Kosmetikkonzerns AVON hatte in Neufahrn mehr als 3.000 Arbeitsplätze geschaffenNeufahrn, das damals unter Bürgermeisterin Käthe Winkelmann prosperierte und einen stürmischen Einwohnerzuwachs verzeichnet, die großen Gemeinden würden nur die wirtschaftlichen Vorteile des Großflughafens verspüren. Den An- und Abflugrouten der Projektbeschreibung zufolge würden Freising und Neufahrn gar nicht überflogen, die Gemeinde Eching nur in einem winzigen Teilbereich. Deswegen ist es erklärbar, dass der Protest in der ersten Phase des Widerstands weitestgehend auf die Dörfer im Erdinger Moos und auf Pulling beschränkt blieb, also auf die unmittelbar betroffenen Grundstückseigentümer, die um ihre bäuerliche Existenz fürchteten, sieht man von Pulling ab, das vom Fluglärm stark betroffen sein würde.
Damit war die politische Rechnung vor allem der Hofoldinger Flughafengegner aufgegangen. Es ist nun an der Zeit, einen Blick auf die Proteste der Gegner des Standorts Hofolding zu werfen. Es war ihnen 1966/67 mit Großdemonstrationen in München und mit gezielter, professioneller Pressearbeit gelungen, ein breites Bündnis gegen den möglichen Standort im Münchner Süden zu schmieden, unter Hinweis auf schützenswerte, überörtlich Belange und gleichzeitig den bereits in einer Voruntersuchung ausgeschiedenen Standort Erdinger Moos ins Spiel zu bringen. Dagegen wurde der Protest im Erdinger Moos fast ausschließlich von den dort ansässigen Gemüsebauern auf ihre sehr eigene Weise artikuliert.
Blenden wir zurück:
Mit dem Ministerratsbeschluss kam am 5.8.1969 das zehnjährige Flughafen-Karussell, wie die Standortsuche für einen neuen Münchner Flughafen auch genannt wurde, zum Halten. Bereits 1960 war neben einer V-Bahn in München-Riem auch ein Flughafen im Hofoldinger Forst in Erwägung gezogen worden. Die nach dem vormaligen bayerischen Staatsminister Richard Öchsle benannte Findungskommission hatten nach raumordnerischen Untersuchungen 1964 drei mögliche Standorte genannt:
An erster Stelle den Hörlkofener Wald im östlichen Landkreis Erding, an zweiter Stelle Sulzemoos im Dachauer Land und an dritter Stelle den Hofoldinger Forst. Der mögliche Standort Erdinger Moos war ohne Bewertung geblieben, weil ein meteorologisches Gutachten jahrelange Untersuchungen erfordert hätte und auch der hohe Grundwasserstand als Hindernis gesehen wurde. Die Öchsle-Kommission präferierte den Standort Hörlkofen östlich von Erding. Doch hier erhob sich Protest der Militärs am nahen Nato-Flughafen Erding. Gegen den Standort Sulzemoos wetterten sofort der Dachauer Landrat Hubert Pestenhofer, unterstützt von Oberbürgermeister Reitmeier und vor allem vom damaligen bayerischen Innenminister Heinrich Junker. Gegen einen möglichen Flughafen in Fürstenfeldbruck, das auch in die Untersuchungen einbezogen war, protestierten der Brucker Landrat und der Bundesjustizminister und spätere Bundestagsvizepräsident Richard Jäger. Als politischer Patron führte Landtagspräsident Hanauer die Streitmacht der Hofolding Gegner an. Und Erding-Freising? Hier schwieg die politische Prominenz bis 1970 weitgehend.
Nach den Untersuchungen der Öchslekommission gründete sich 1966 zur Vorbereitung einer endgültigen Standortentscheidung ein „Arbeitskreis Flughafen München“, der alle Fragen untersuchen und klären sollte. Überraschender Weise votierte dieser Arbeitskreis nicht für die von der Öchsle-Kommission favorisierten Standorte Hörlkofener Wald oder Sulzemoos, sondern für Hofolding, ein Standort der erst an dritter Stelle lag. Hintergrund war wohl die Entscheidung des Olympischen Komitees, die Sommerspiele 1972 an München zu vergeben. Auf einem leistungsfähigen, für große Düsenflugzeuge geeigneten Flughafen sollten die Gäste aus der ganzen Welt landen können. Der einzige Standort, der aufgrund der Eigentumsverhältnisse in dieser kurzen Zeit realisierbar zu sein schien, war Hofolding mit seinen Staatsforsten. Außerdem bot Hofolding nach Ansicht des Arbeitskreises die verkehrsgünstigste Lösung zum Hauptquell- und Zielort München. Damit entwickelte sich die Standortentscheidung aus heutiger Sicht zum politischen Lehrstück.
Bereits im April 1966, als über Hofolding nur diskutiert wurde, gründeten einige Bürgermeister die Schutzgemeinschaft Hofoldinger Forst. Als im Oktober 1966 für Hofolding das Raumordnungsverfahren eingeleitet wurde, trat die Schutzgemeinschaft zum Protest an. Angeführt wurde sie vom Ayinger Bürgermeister Mang, dem Schifabrikanten Fritzmeyer, dem Ayinger Brauereibesitzer Inselkammer und Landtagspräsident Rudolf Hanauer, CSU, zu dessen Stimmkreis Teile des Hofoldinger Forsts gehörten: Vor allem Hanauer spann sein Netzwerk in Politik und Verwaltung. Er lud Gegner des Standortes in den Landtag ein, um gemeinsam zu beraten, wie man Hofolding verhindern könnte. Journalisten versorgte er bei Hintergrundgesprächen mit Informationen, zu denen er als Landtagspräsident Zugang hatte. Hauptargumente gegen den Standort Hofolding waren, dass ein riesiges Grundwasservorkommen für die Landeshauptstadt gefährdet wäre, ebenso ein grandioses Naherholungsgebiet.
Die Gegner von Hofolding focht es nicht an, dass die Münchner Stadtwerke betonten, der Hofoldinger Forst würde als Wasserlieferant nicht in Betracht gezogen. Das Münchner Wasser kam schon damals wie heute überwiegend aus dem Mangfalltal und aus dem Loisachtal im Werdenfelser Land. Ludwig Vogl, der mächtige Verleger des Münchner Merkur, wohnhaft in Warngau nahe Hofolding, machte seine Zeitung zum Kampfblatt gegen den Standort. Trotz des Dementis aus München stellte der Merkur die Behauptung auf, Münchens künftige Wasserversorgung sei gefährdet. Außerdem malte der Münchner Merkur die Zerstörung eines riesigen Erholungsgebiets an die Wand. Auf Pressekonferenzen in Münchner Nobelhotels wurden Auftrags-Gutachten gegen Hofolding präsentiert, die dies Positionen scheinbar untermauerten.
Als Verkehrsexperte trat der frühere Ministerialrat Dr. Ing. Erwin Deischl auf, er war bei der Bundesbahn für das Feuerlöschwesen zuständig gewesen. Dies war in der Öffentlichkeit nicht bekannt, es hinderte ihn aber nicht, sich als Flughafenexperte auszugeben. Deitschl verstecke sich hinter verschiedenen Organisationen. Er monierte als Vorstandsmitglied des Deutschen Naturschutzringes den Standort Hofolding als verfehlt, und hob im Januar 1967 die Vorzüge des Erdinger Mooses als Flughafenstandort hervor. In der Ingenieur-Zeitschrift „technik und München” machte er auf vorgebliche Verkehrsprobleme bei einem Standort Hofolding aufmerksam. Als Verkehrsfachmann verfasste er am 13. Juli 1967 eine Sonderseite im Münchner Merkur, auf der er dafür plädierte, dass die Stadtwerke München ihr Wasser unbedingt aus dem Hofoldinger Forst beziehen müssten, das Wasser aus dem Loisachtal zu holen, sei nicht vertretbar. Im Erdinger Moos sei der Großflughafen dringend erforderlich. Als Ministerialrat stellte er dem Bayerischen Wirtschaftsministerium öffentliche Fragen, warum es kein Raumordnungsverfahren für das flache Ödland im Erdinger Moos gebe, das sich für einen Flughafen hervorragend eigne, auch die Nebelhäufigkeit sei minimal.
Deischl trat als Ministerialrat und Verkehrsexperte bei Versammlungen der Schutzgemeinschaft Hofolding auf, sein Name prangte unter Zeitungsanzeigen gegen Hofolding und pro Erding. Er erweckte den Eindruck von meteorologischen Fragen etwas zu verstehen und er steckte hinter einem „Interessentenkreis für die Errichtung eines Großflughafens Erding-Nord/Hallbergmoos”, der den Moosbauern goldene Berge versprach, wenn der Flughafen realisiert würde. Er übte in persönlichen Briefen im April 1969 Druck auf die Mitglieder des bayerischen Kabinetts aus, in dem er die Befürchtung äußerte, dass die streng sachlichen Ergebnisse für den Standort Erding nicht gebührend berücksichtigt würden. Seine Interessengemeinschaft, die unter Deischls Privatwohnung in München firmierte, nahm für sich in Anspruch, die wahren Interessen des Erdinger Mooses zu vertreten.
Kann man Deischl noch als kuriose Figur im Flughafenspiel abtun, so ist die offen parteiische Rolle, die der damalige oberbayerische Regierungspräsident Adam Deinlein spielte, heute unvorstellbar. Deinleins Behörde führte das Raumordnungsverfahren über die Eignung des Standorts Hofolding durch, die Regierung von Oberbayern war also vermeintlich objektiver Schiedsrichter. Regierungspräsident Deinlein war aber gleichzeitig auch Vorsitzender des Tourismusverbandes Oberbayern. Der Tourismusverband Oberbayern wiederum war Mitglied in der Schutzgemeinschaft Hofolding, die das Ziel hatte, diesen Standort unbedingt zu verhindern. Vor diesem Hintergrund hatte Regierungspräsident Deinlein bereits im Frühjahr 1968 in Vorwegnahme des Ergebnisses des vergleichenden Raumordnungsverfahrens verkündet, der Flughafen komme keinesfalls nach Hofolding.
Die Gegner von Hofolding hatten bereits im November 1966, also einen Monat nach Eröffnung des Raumordungsverfahrens, den bereits ausgeschiedenen Standort Erdinger Moosins Spiel gebracht, weil es sich hier um Ödland handle und „dort kein Baum gefällt werden muss“, wie es Landtagspräsident Hanauer in einem Interview formulierte. Die Schutzgemeinschaft Hofolding erweckte auch den Eindruck, im Interesse einer sachlich besseren Lösung zu kämpfen, wie ich es bei den Aktivitäten des Dr. Deischl schon aufgezeigt habe. Den Gegnern des Standorts Hofolding gelang es so nach und nach immer mehr Gemeinden im Oberland auf ihre Seite zu bringen, die um den Fremdenverkehr fürchteten. Der Protest gegen den Standtort im Moos war bis zur Ministerratsentscheidung im Sommer 1969 dagegen auf ein paar bäuerliche, kleine Gemeinden beschränkt geblieben.
Hauptgrund, den Standort Erdinger Moos ins Spiel zu bringen, dürfte jedoch gewesen sein, dass sich in Freising und Erding kaum Widerstand gegen die Flughafenpläne regte, obwohl auch der Landkreis Freising mit seinem vormaligen Landrat Philipp Held als nunmehrigen Justizminister im Kabinett Goppel seit 1966 herausragend vertreten war. Jedenfalls wurde auf Druck von Hofoldinger Seite im Oktober 1967 das Raumordnungsverfahren auf den Standort Erding ausgedehnt. Vorher hatte das Verteidigungsministerium auf Druck aus München signalisiert, den Flugbetrieb am nahen Erdinger Militärflughafen einschränken zu können. Landtagspräsident Hanauer legte außerdem ein anonymisiertes Wetter-Gutachten vor, dass für das Erdinger Moos zu wesentlich günstigeren Aussagen kam, als das offizielle Gutachten des Deutschen Wetterdienstes, das die Öchsle-Kommission eingeholt hatte. Später stellte sich heraus, dass das Gutachten von Hanauer vom Ingenieurbüro Kurt Becker stammte. Einer der Spitzenleute von Becker war damals der Diplom-Ingenieur Werner Töpel, der bald darauf ins Wirtschaftsministerium wechselte und dann bis zu seiner Pensionierung als Ministerialrat im Ministerium für die bautechnische Betreuung des Flughafenprojekts zuständig war.
Völlig anders dagegen der Protest und das Vorgehen im Erdinger Moos: Der Protest blieb praktisch im Moos hängen. Hier marschierten die Bauern mit Mistgabeln in den Fäusten zum Demonstrieren ins Bierzelt, verliehen Ihrer Wut mit selbstverfassten Heimatgedichten Ausdruck und forderten die Besucher kämpferisch auf: „Sprecht mir nach: Wir werden sie zerschmettern”. Ihr Hauptargument war ihr angestammtes Recht auf eigenen Grund und Boden, ein Argument, das mit Ausnahme von Hofolding für jeden anderen Standort auch zutraf. Dazu kam, dass den Bauern ein charismatischer, wortgewandter Anführer fehlte, den die Hofoldinger in Landtagspräsident Hanauer hatten. Zu allem Überfluss erhielt auch noch der damalige FDP-Bundestagskandidat und nachmalige Landwirtschaftsminister Josef Ertl Ohrfeigen, als er in Pulling eine Kundgebung vorzeitig mit den Worten verließ: „Jetzt hab‘ ich mir Euren Schmarrn lang genug angehört!”
Die Bauern im Moos wähnten sich im Recht, pochte auf die Garantie des Grundeigentums und verzichteten auf eine groß angelegte Argumentations-Kampagne. Fairerweise muss man auch betonen, dass der Schutzgemeinschaft keine Einsicht in Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange im Rumordnungsverfahren oder in Gutachten gewährt wurde. Zur damaligen Zeit konnte das Ergebnis eines Raumordnungsverfahrens, obwohl vorentscheidend, vor Gericht auch nicht angefochten werden, ebenso wenig die politische Entscheidung des Ministerrats. Allerdings gaben Verwaltungsrichter einer Klage der Schutzgemeinschaft auf Akteneinsicht im Raumordnungsverfahren im Mai 1969 statt, zu einem Zeitpunkt freilich, als die Entscheidung pro Erding faktisch schon gefallen war. Dann unterzog sich in der Schutzgemeinschaft leider auch niemand mehr der Mühe, die inzwischen angehäuften, hohen Aktenberge kritisch zu sichten.
Justizminister Philipp Held,
Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann
und sein Staatssekretär Simon NüsselVor diesem Hintergrund fällte der Bayerische Ministerrat gegen drei Stimmen am 5.8.1969 die Standortentscheidung für Erding-Nord – so die damals offizielle Bezeichnung. Und der Großflughafen hatte den Namen München II, weil nach der damaligen Planung der stadtnahe Standort Riem nicht aufgegeben werden sollte. Allein schon die Standortbezeichnung Erding-Nord für einen Airport, der wesentlich näher an Freising lag als an Erding, war politische Taktik gewesen.
Freilich zeigte die gerichtlich angeordnete, spätere Veröffentlichung der Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange im Raumordnungsverfahren, dass auch seitens der Staatsregierung zumindest die Öffentlichkeit einseitig zu Gunsten von Hofolding und zu Ungunsten der Gegner von Erding-Nord informiert worden war. Sie fielen negative Stellungnahmen zu Erding in der von der Staatskanzlei veröffentlichten vergleichenden Info-Broschüre zu den Standorten Hofolding und Erding-Nord schlicht unter den Tisch, während die den Standort Hofolding ablehnenden Stellungnahmen alle abgedruckt wurden — auch wenn sie noch so fragwürdig waren. So fehlten bei Erding das kritische ornithologische Gutachten, ein kritisches hydrologisches Gutachten und massive meteorologische Bedenken gegen den Standort.
Eines der in der Öffentlichkeit nach der Ministerratsentscheidung von der Staatsregierung stark herausgehobellen Argumente war der Baukostenvergleich: Hofolding erschien nach der Broschüre der Staatsregierung fast doppelt so teuer als der Standort im Erdinger Moos – obwohl der Flughafen in Hofolding überwiegend auf Staatsgrund errichtete werden sollte, im Erdinger Moos ausschließlich Privatgrund erworben werden musste. Im Winter 1970/71 überprüften Neufahrner Bauingenieure, die sich in der zwischenzeitlich entstandenen Bürgerinitiative engagierten, die offizielle Kostenkalkulation. Einer von ihnen war der in Neufahrn wohnende Chefstatiker des damals im Bau befindlichen Münchner Olympiastadions. Die Ingenieure kamen bei der Überprüfung der Details der Projektbeschreibungen und der Kostenkalkulation zu erstaunliche Erkenntnissen:
So sollten für den Bau von zwei Kilometern S-Bahnstrecke in Hofolding 95 Millionen Mark mehr ausgegeben werden, also für 27 Kilometer S-Bahnstrecke zum Standort im Erdinger Moos. Die Kosten für den Grundwasserschutz in Hofolding waren mit 100 Millionen Mark angegeben, in Erding dagegen, trotz des hohen Grundwasserstands im Moos, wurde nur die vergleichsweise minimale Summe von 26 Millionen genannt. Neufahrner Bauingenieure konnten also nachweisen, dass der Kostenvergleich Hofolding – Erding eindeutig zugunsten von Hofolding in die Höhe gerechnet worden war, für Erding jedoch bei vergleichbaren Voraussetzungen wesentlich niedrige Summen angesetzt worden waren. Doch diese Berechnungen gingen ins Leere. Denn bei einer Podiumsdiskussion im Februar 1971 in Neufahrn wischte Wirtschaftsminister‚ Anton Jaumann diese Berechnungen mit der Bemerkung vom Tisch, die möglichen Baukosten hätten bei der Standortentscheidung vom 5.8.1969 überhaupt keine Rolle gespielt. Tatsächlich erklärte im Frühjahr 1971 der damalige Bauernverbandsvizepräsident und Senator Xaver Ernst, Ministerpräsident Goppel habe ihm gesagt, der Großflughafen komme ins Erdinger Moos, weil es dort keinen nennenswerten Widerstand gebe.
Man kann durchaus davon ausgehen, dass Jaumann hinsichtlich der Kostenfrage die Wahrheit sagte und auch Xaver Ernst die Goppel-Äußerung nicht erfunden hatte. Denn die Standortentscheidung vom 5.8.1969 stellte sich im Nachhinein als eine rein politische Entscheidung dar, und an ihr ermisst sich auch die politische Stärke eines Rudolf Hanauer oder in der Person Philipp Helds die Schwäche der damals führenden Politiker in der CSU. Held, durchaus eine honorige Persönlichkeit, sah sich als Vertreter der Obrigkeit, den Protesten der Bürgerinitiativen stand er verständnislos gegenüber. Er wurde so selbst zur Zielscheibe des Unmuts, als an der B 11 von anonymer Seite Tafeln aufgestellt wurden, mit der Aufschrift: „Held, was ist Dein Judaslohn?“ Als ich ihn im Jahr 1976 für meine Magisterarbeit zu seiner Rolle befragte, erklärte er, er sehe sich selbst nicht als Aufwiegler.
Nach der politischen Entscheidung vom 5.8.69 schien der Standort akzeptiert zu sein, die Schutzgemeinschaft Erdinger Moos war offensichtlich am Ende, es zeigten sich deutliche Auflösungserscheinungen. Bereits am 10. Oktober 1969 trat Eching aus der Schutzgemeinschaft aus, im Januar 1970 die Gemeinde Haimhausen. Ebenfalls im Januar 1970 beschwerte sich Steinicke bei der Stadt Freising, dass die Stadt mit dem Wirtschaftsministerium und der Flughafengesellschaft intensive Verhandlungen über wirtschaftliche Vorteile führe, obwohl sie doch Mitglied der Schutzgemeinschaft sei. Im Sommer 1970 kam es zum Zerwürfnis zwischen Gemeinden im Moos und denen im Landkreis Freising, weil diese bei einem Besuch von Ministerpräsident Goppel in Franzheim nicht eingeladen waren. Die Gemeinden Massenhausen, Günzenhausen und Hallbergmoos verließen ebenfalls die Schutzgemeinschaft. Die Stadt Freising hegte ebenfalls Austrittsgedanken, weil der Vorsitzende der Schutzgemeinschaft, Oberdings Bürgermeister Schweiger in seiner Eigenschaft als Besitzer eines kleinen Energieversorgungsunternehmens bei einer Besprechung zur Energieversorgung des Flughafens dabei war, die Stadtwerke Freising, ebenfalls Energielieferant, aber nicht geladen waren. Die erste Phase des Widerstands gegen den Flughafen im Moos war vorbei. Die Moosbauern konzentrierten sich auf die neu gegründete Eigentümergemeinschaft, die versuchte, wenigstens einen hohen Preis herauszuholen, wenn der Flughafen schon nicht zu verhindern war.
Die zweite Phase des Wiederstands und damit das Wiederaufleben der Schutzgemeinschaft markiert der Herbst 1970, als die nun gesetzlich vorgeschriebenen Genehmigungsverfahren für den Flughafen, die luftrechtliche Genehmigung und später das Planfeststellungsverfahren anliefen. Denn nun waren die Behörden verpflichtet, Gutachten auszulegen und die Bürger am Verfahren zu beteiligen. Das Raumordnungsverfahren, das in der politischen Standortentscheidung mündete, war noch weitestgehend „als verfluchtes Geheimveifahren” von der Regierung von Oberbayern durchgeführt worden, wie dies Justizminister Held Anfang der 1970er Jahre beklagte. Während die Flughafengesellschaft 1970 in einer Broschüre mit dem Namen „Nachbar Flughafen“ die Zukunft der Region in leuchtenden Farben malte, erhielten die Anrainergemeinden im Rahmen des luftrechtlichen Genehmigungsverfahrens im Herbst 1970 ein erstes Lärmgutachten zugeleitet. Diesem Gutachten war zu entnehmen, dass nicht nur ein paar kleine Dörfer im Moos vom Lärm des Airports betroffen sein würden, sondern ein ganzer Landstrich, vor allem die Großgemeinden Eching und Neufahrn im Süd-Westen. Als es darauf zu ersten Protesten aus diesen Gemeinden kam, wiegelte der damalige Flughafenchef Graf zu Castell noch ab und warf der Neufahrner Bürgermeisterin Käthe Winkelmann Panikmache vor.
Freilich bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen der Standortgegner, als die Regierung von Oberbayern kurz vor Weihnachten 1970 für die potentiell vom Lärm betroffenen Gemeinden eine bauliche Veränderungssperre, auf Deutsch einen Baustopp verhängte, der eine Vielzahl von Gemeinden zwischen Eitting im Osten und Fahrenzhausen im Westen betraf. So wurde zum Beispiel der Rohbau der künftigen Grund- und Hauptschule in Neufahrn eingestellt, der heutigen Jo-Mihaly-Mittelschule. Schulen und Kindergärten sollten in diesen vom Lärm betroffenen Gemeinden nicht mehr errichtet werden. Am Ortseingang von Neufahrn wurden daraufhin über Nacht Schilder aufgestellt, mit der Aufschrift: „Willkommen in Neufahrn, derzum Tod verurteilten Gemeinde.”
Die Folge des Baustopps war ein gewaltiger Proteststurm von Bürgern, der von Neufahrn ausging, wo sich unmittelbar vor der Landthgswahl im November 1970 die erste Bürgerinitiative gegründet hatte, ein Proteststurm, der in der Folge den ganzen südlichen und westlichen Landkreis Freising und den westlichen Teil des Landkreises Erding in umfasste. Ingenieure, Techniker und Juristen, junge Familien, die sich in den letzten Jahren Neufahrn, Eching und Freising angesiedelt hatten und sich nun betrogen fühlten, waren Träger des Protests. Der Proteststurm erfasste auch die örtlichen Parteigremien von CSU und SPD, die sich von ihren übergeordneten Gremien im Stich gelassen fühlten.
Nun kam es nicht nur zu Großdemonstrationen mit Tausenden Teilnehmern in München, sondern auch zur umfassenden argumentativen, sachlichen Auseinandersetzung mit den Unterlagen der Flughafenplaner. Als Erster wurde der staatliche Gutachter für die Lärmberechnung, Professor Bürck, von Wirtschaftsminister Jaumann aus dem Verkehr gezogen, weil seine Arbeit ganz offensichtlich eine geschönte Auftragsarbeit war und den Gegenargumenten von Sensburg und Schreiner, zwei Neufahrner Ingenieuren, nicht standhielt. Bei einem Anhörungstermin trieben Sensburg und Schreiner den Gutachter Bürck so in die Enge, dass er sich zu der Behauptung hinreißen ließ, viele Menschen wollten doch den Lärm, was man an der Besucherzahl des Oktoberfestes erkenne... Die auf sachlich dünnem oder besser wässrigen Moosboden gefällte politische Standortentscheidung musste in den Genehmigungsverfahren und vor den Gerichten immer wieder nachgebessert werden, Gutachten folgte auf Gegengutachten. 1979 schließlich kam im Juli der Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen und der Bau begann im November 1980. Doch bereits im April 1981 verhängte der Verwaltungsgerichtshof einen Baustopp. Erst im Frühsommer 1985 konnten die Bagger wieder anrollen und der Flughafenbau fortgesetzt werden. Am 11. Mai 1992 ging der Flughafen dann in Betrieb, der Nachbar Flughafen wurde endgültig Realität.
Das Auftreten von Bürgerinitiativen, deren Handeln nicht in die bisherigen, von Obrigkeitsgläubigkeit geprägten Schemata politischen Handelns passten und die nicht kontrollierbar waren, führte nach anfänglicher Irritation bei einigen Bürgermeistern zu einer Reaktivierung der Schutzgemeinschaft. Eine ganze Anzahl von Gemeinden trat nun wieder oder erstmals der Schutzgemeinschaft bei. Besonders deutlich wird die Zusammenarbeit zwischen der Schutzgemeinschaft und den Bürgerinitiativen an zwei Personen, die dann an der Spitze der Schutzgemeinschaft standen: Kurt Kittel aus Achering und Oskar Vincenti, der von 1977 bis 1996 Vorsitzender der Schutzgemeinschaft war. Kittel und Vincenti kamen über das Engagement bei den Bürgerinitiativen zu ihrer Führungsrolle in der Schutzgemeinschaft, Oskar Vincent wurde dann auch Bürgermeister von Eitting.
Es entwickelte sich eine Arbeitsteilung, die bis heute anhält: Auf der einen Seite dieüberwiegend aus honorigen Kommunalpolitikern bestehende Schutzgemeinschaft, die als finanzieller Garant für Gutachten und bei Prozessen auftritt, die die Gemeinden koordiniert und auch offizieller Ansprechpartner der Behörden ist. Voraussetzung dafür war freilich, dass etablierte Kommunalpolitiker die Mitarbeiter der Bürgerinitiativen nicht in der Manier von Honoratioren als politische Konkurrenten sahen, sondern als ihre Unterstützer. Dies war gerade in der Anfangsphase der Bürgerintiativen-Bewegung keineswegs selbstverständlich. Ich erinnere mich hier an so manche Querschüsse von Bürgermeistern, die den Bürgerinitiativen mit äußersten Misstrauen begegneten. Die Bürgerinitiativen übernahmen einen anderen Part. Sie waren und sind von politischer Seite schwer zu kontrollieren und damit ein Stück weit unberechenbar. Sie arbeiten mit viel Schwung und ohne Rücksicht auf parteipolitische Interessen mit wechselnden Personen seit fast 50 Jahren, sie üben Druck aus, wenn es nötig scheint, auch auf Kommunalpolitiker der eigenen Coleur. Sie führen Aktionen durch und bringen von außen sehr viel Know-How in die sachliche Auseinandersetzung ein, mit der die Verwaltungen der Gemeinden überfordert wären.
Da der Kampf gegen das Flughafen-Projekt letztlich nicht von dem Erfolg gekrönt war, den sich alle erhofften, nämlich Verhinderung des Flughafens am Standort, blieb auch den Protagonisten des Widerstands nichts anderes übrig, als sich mit dem Flughafen zu arrangieren. Obwohl der Flughafen einzelnen Gemeinden tatsächlich wirtschaftliche Vorteile gebracht hat, erweist sich heute der vorhergesagte Zuwachs von 15.000 Arbeitsplätzen durch eine 3. Startbahn eher als Schreckgespenst, zusätzlich zu den existenziellen Sorgen der von einer dritten Startbahn hart betroffenen Bürger von Attaching. 15.000 zusätzliche Arbeitsplätze, das bedeutet neuen Wohnraum für etwa 40.000 Menschen zu schaffen.
Gemeinsam ist allen Anrainergemeinden ein starker Siedlungsdruck mit explodierenden Bodenpreisen und einem Mietniveau, das Arbeiter und Normalverdiener bei der Wohnungssuche oft verzweifeln lässt. Der Wohnungsmarkt und der Arbeitsmarkt sind Ieergefegt. Die Quadratmeterpreise für Baugrund liegen zum Beispiel in Neufahrn zwischen 1.000 und 1.400 Euro. Die Bundespolizei hat für Ihre Mitarbeiter, die bis aus Aschaffenburg zur Arbeit am Flughafen kommen, Unterkünftein Boardinghäuser angemietet, weil auf dem normalen Wohnungsmarkt nichts Erschwingliches zu finden ist.
Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist in einem überhitzten Wirtschaftsraum noch mehr ein Totschlagargument als anderswo. Im Übrigen war bereits 1973, als die Gemeinde Neufahrn ein raumplanerisches Gutachten vorlegte, deutlich, dass zumindest der Landkreis Freising diesen Flughafen aus wirtschaftlichen Gründen nicht braucht. Der Landkreis stand seit Ende der 1960er Jahre bei der Wirtschaftskraft an zweiter Stelle in Bayern, nur übertroffen vom Landkreis München, die Entwicklungsachse München-Landshut war schon damals ein landesplanerisches Ziel für eine forcierte wirtschaftliche Entwicklung in der Region. Allein die Firma Avon in Neufahrn beschäftigte Ende der 1960er Jahre gut 3.000 Arbeitnehmer.
Flughafendirektor Kerkloh machte schon vor zwei Jahren auf einer Pressekonferenz im Münchner Presseclub auf gezielte Nachfrage kein Hehl daraus, dass für den Flughafen die Neufahrner Kurve und die Walpertskirchener Spange der Bahn zwar für den Transport der Passagiere des Flughafens wichtig sind, genauso aber auch, um Arbeitskräfte aus weiter entfernten Regionen täglich zum Flughafen zu bringen. Dass der Flughafen miserabel an das bundesweite Bahnnetz angebunden ist, hier auch kaum Verbesserungen zu erwarten sind, das war in den 1970er Jahren übrigens eines der Hauptargumente der Standortgegner.
Wo ist die Aufgabe der Schutzgemeinschaft heute, 50 Jahre nach ihrer Gründung? Die Landkreise Freising, Erding und Dachau gehören ihr an, sowie 44 Gemeinden und mehrere Hundert Privatpersonen. Sie ist eine regionale Solidargemeinschaft, die die Bürger dort unterstützt, wo der Einzelne oder auch eine einzelne Kommune überfordert wären. Und sie wird weiter gebraucht werden, solange es den Nachbar Flughafen mit seinen manchmal höchst eigensüchtigen Interessen gibt. Das gilt vor allem für die Auseinandersetzungen um eine dritte Startbahn, um die Festlegung von Flugrouten, um die Einhaltung einer Nachtflugregelung, um Belastungen durch Feinstaub oder um die Verkehrserschließung. Der Nachbar Flughafen ist eine Daueraufgabe, zu deren Bewältigung alle zusammenstehen müssen. 50 Jahre Schutzgemeinschaft, das bedeutet 50 Jahre leidenschaftliches bürgerschaftliches Engagement, 50 Jahre Einsatz für eine lebendige Demokratie und für eine lebenswerte Heimat!
Ich danke Ihnen für Ihre geduldige Aufmerksamkeit!